Corona: Weichen in Richtung Zukunft gestellt

Das Corona-Virus hat die Welt im Griff. Vom persönlichen Miteinander der Menschen bis zu den globalen Wirtschaftskreisläufen ist Ende November 2020 kaum mehr etwas, wie es noch Anfang März schien. Was aber bedeutet das für Unternehmen in unserer Region? Wir haben bei zwei POLYKUM-Mitgliedern nachgefragt – und bemerkenswert optimistische Antworten erhalten.

Auf den bereits geplanten Messtand bei der Fakuma in Friedrichshafen verzichtete Domo 2020 coronabedingt. Stattdessen suchte der Konzern mit dem erstmals organisierten virtuellen Event "Connect2Domo" den Austausch mit seinen Kunden.

Unsere Gesprächspartner:

Dr. Maarten Veevaete (links), Director Global Research & Development bei DOMO Engineering Plastics Europe S.p.A. in Leuna.

Prof. Dr.-Ing. Peter Michel, Leiter des Geschäftsbereiches Polymeranwendungen im Fraunhofer Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen (IMWS) in Halle.

Sie arbeiten beide in der Spitzenforschung im Bereich Kunststoffanwendungen. Inwiefern hat das Corona-Virus Ihre Arbeit seit März beeinflusst?

Prof. Michel: Unsere anwendungsbezogene Forschung und Entwicklung lebt natürlich von der Zusammenarbeit mit der Industrie. Deren FuE-Projekte zielen auf zukunftsorientierte Technologien und Produkte ab. Da momentan keiner genau weiß, wie sich die Lage zukünftig entwickelt, sind viele Unternehmen zurückhaltender und vorsichtig geworden. Daher mussten auch wir auf einige industrielle Projekte verzichten. Wir haben aber beobachtet, dass das sehr branchenspezifisch ist, auch hinsichtlich des Tempos einer Erholung nach dem ersten Corona-Schock.

Dr. Veevaete: Das deckt sich mit unserer Wahrnehmung. Im zweiten Quartal registrierten wir zum Beispiel deutliche Beeinträchtigungen in den Lieferketten von Polyamidcompounds für verschiedenste Automotivebereiche – ob Interior, Exterior oder „unter der Motorhaube“. Das schlug sich auch in einem Rückgang entsprechender F+E-Projekte nieder. Im dritten Quartal zeigte die Tendenz jedoch zumindest in Deutschland und Europa hier wieder aufwärts. Andere Bereiche, wie Industrie- und Verbraucherprodukte oder elektronische Ausrüstungen hingegen blieben ungeachtet der Pandemie relativ stabil.  

Mit welchen Gegenmaßnahmen konnten Sie und Ihre Teams auf die besonderen Herausforderungen reagieren?

Dr. Veevaete: Am Standort Leuna wie im gesamten DOMO-Konzern wurde binnen kürzester Zeit in die IT-Infrastruktur für mobiles Arbeiten investiert. Das war der richtige Schritt in Richtung mobiles Arbeiten und ging nicht nur mit deutlich mehr Flexibilität einher, sondern erleichterte unseren Mitarbeitern auch die Kinderbetreuung. Kurzarbeit wurde bei DOMO nur in geringem Umfang für ganz kurze Zeit in Anspruch genommen. Seit Juni arbeiten alle Mitarbeiter wieder normal. Dank eines 40 Einzelmaßnahmen umfassenden Hygienekonzeptes gelang es uns, den Geschäftsbetrieb immer aufrecht zu erhalten und den planmäßigen Shutdown unserer Produktionsanlagen in Leuna ohne Abstriche durchzuführen. Darüber hinaus haben wir – als Alternative für die ausgefallene Branchenmesse Fakuma – erstmals ein virtuelles Event „Connect2Domo“ durchgeführt. Mit 150 Fachteilnehmern hat die digitale Premiere unsere Erwartung übertroffen.

Prof. Michel: Am Fraunhofer IMWS haben wir bereits im Februar ein sehr umfassendes Hygiene- und Digitalisierungskonzept entwickelt, welches von allen Mitarbeitern konsequent gelebt wird. Dadurch ist es uns bisher gelungen, unseren Forschungsbetrieb ohne große Störungen aufrecht zu erhalten. Natürlich kommt uns dabei zugute, dass viele unserer Tätigkeiten mit dem Computer auch von zu Hause aus erledigt werden können. Mit stärker als sonst flexibilisierten Arbeitszeiten macht das eine minimale Mitarbeiterdichte im Labor- und Technikumsbetrieb bei uneingeschränkter Arbeitsfähigkeit möglich. Unsere Kunden und Partner müssen bisher keine nennenswerten Einschränkungen in Kauf nehmen.

Gibt es in Ihren Häusern Forschungsprojekte, die in der Corona-Krise überhaupt erst – oder wieder neu – auf die Tagesordnung gerückt sind?

Prof. Michel: Aktuell beschäftigen wir uns zum Beispiel mit neuer innovativer Schutzkleidung. Darüber hinaus hat die Pandemie mehrere Themen, an denen wir zuvor bereits arbeiteten, mit Macht in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Stichwort Mobilitätswende: Wenn der Lockdown irgendwann vorbei ist, werden viele Menschen nicht einfach die alten Verbrenner aus der Garage holen, sondern auf neue, umweltschonendere Alternativen setzen wollen. Vor diesem Hintergrund stößt ein Anfang 2020 angeschobenes Großprojekt im Rahmen des Leichtbau-Technologie-Transferprogramms heute auf noch mehr Interesse bei der Industrie als beim Projektstart. In den Bereichen Automotive, Bahn und Schiff und darüber hinaus im Baugewerbe sind wir als Institut traditionell sehr gut aufgestellt. Ein weiterer stark wachsender Arbeitsschwerpunkt ist für uns gegenwärtig der regionale Strukturwandel, der in den letzten Monaten eingeläutet und gesetzlich verankert wurde. Wir arbeiten intensiv daran mit, die Energiewirtschaft und letztlich die gesamte Wirtschaft zu decarbonisieren, zum Beispiel durch eine effizientere Kreislaufwirtschaft. Recyclingverfahren erforschen wir dabei ebenso wie nachhaltige Rohstoffe im Bereich der Biotechnologien, die bei der Herstellung von Biokunststoffen zum Einsatz kommen.

Dr. Veevaete: Wir bei DOMO nutzen die Corona-Phase zum Beispiel, um wichtige Weichen in Richtung Zukunft zu stellen. Dazu gehört der Aufbau einer globalen Datenbank und die Vernetzung aller Labore und Messeinrichtungen sowie sämtlicher Forschungs- und Entwicklungsbereiche im Konzern. Für die F+E-Unit in Leuna ist unter anderem Leichtbau ein wichtiges Thema. So forschen wir hier gegenwärtig – übrigens gemeinsam mit dem Fraunhofer IMWS – an so genannten UD-Tapes. Das sind unidirektional verstärkte Thermoplastbänder, die extrem große, in eine bestimmte Richtung wirkende Kräfte aufnehmen können – bei vergleichsweise geringem Gewicht. Alle Investvorhaben im Konzern werden in der Krise gleichwohl kritisch überprüft. Strategisch wichtige Investitionen wie der Bau einer Compoundfabrik in Pinghu (China) werden jedoch realisiert – allenfalls mit leichten Verzögerungen.

Wie sehen Sie die bisherige Rolle der Politik im Umgang mit der Pandemie?

Dr. Veevaete: Die bisher von Bund und Ländern in Deutschland beschlossenen Maßnahmen schützen die deutsche Wirtschaft nach unserer Beobachtung bisher recht wirksam gegen die Auswirkungen des Virus. Und sie verhindern bis jetzt recht effektiv einen Kollaps des Gesundheitssystems. Die Entscheidungen scheinen wirksamer zu sein als in vielen anderen europäischen Ländern.

Prof. Michel: Die umfangreichen Innovationsoffensiven des Landes Sachsen-Anhalt und des Bundes geben uns außerdem die Möglichkeit, in für uns bisher neuen Gebieten intensivste Forschung zu betreiben und somit Zukunftsthemen noch besser vorzubereiten, um den erhofften Aufschwung nach der Krise mit unseren Kompetenzen unterstützen zu können. Das entdecken erfreulicherweise auch immer mehr Unternehmen: Corona bietet auch neue Chancen, gerade im F+E-Bereich.