Das entscheidende Aha-Erlebnis hatte Peter Putsch bei der Vorbereitung der K‑Messe im Jahr 2019: Um eine von ihm mitentwickelte neue Maschine auf der weltgrößten Branchenschau in voller Aktion präsentieren zu können, experimentierte der Chef der Merseburger Exipnos GmbH einige Monate zuvor mit Polybutylensuccinat (PBS), einem kompostierbaren Kunststoff auf der Basis von Bernsteinsäure. „Das Material lässt sich erstaunlich leicht verarbeiten, gut modifizieren und vielseitig einsetzen“, befand der Compoundeur. Als er daraufhin versuchte, größere Mengen PBS zu beschaffen, staunte er ein zweites Mal: „Das Material war und ist am Weltmarkt nur in relativ kleiner Menge verfügbar.“
Je tiefer Putsch in das Thema eintauchte, desto mehr reifte in ihm eine Idee, die seine Wahlheimat in den kommenden Jahren nachhaltig verändern dürfte: „Wir haben hier in Mitteldeutschland erstklassige Voraussetzungen, um eine komplette Wertschöpfungskette für pflanzenbasiertes PBS aufzubauen“, stellte der gebürtige Franke fest. „Von der Rohstoffgewinnung über die Biotechnologie und die Synthetisierung, die Aufbereitung, Verarbeitung und Produktentwicklung bis hin zum Recycling sind alle notwendigen Kompetenzen vorhanden“, erkannte der Unternehmer, der ehrenamtlich die POLYKUM Fördergemeinschaft für Polymerentwicklung und Kunststofftechnik in Mitteldeutschland führt. Der Verband hatte bereits 2018 den Internationalen Kongress „Biopolymer – Processing & Moulding“ aus der Taufe gehoben und vergibt seit 2019 den mit 2.000 Euro dotierten BIOPOLYMER Innovation Award.
Neuer Wirtschaftszweig entsteht
Unter den Mitgliedern des gemeinnützigen Vereins brachte Putsch Ende August 2019 ein Papier in Umlauf, das die Idee einer „Biopolymer-Region Mitteldeutschland“ beschrieb. Bei mehreren Adressaten rannte der Netzwerker damit offene Türen ein. Zum Beispiel bei Thomas Büsse vom Fraunhofer Institut für Angewandte Polymerforschung. Der Leiter des Verarbeitungstechnikums Biopolymere in Schwarzheide hatte aus einer Reihe erfolgreicher Projekte mit biobasiertem PBS ganz ähnliche Schlussfolgerungen für die Braunkohleregion gezogen wie Putsch.
Ein halbes Jahr später saßen etwa 20 Gleichgesinnte unterschiedlichster Fachgebiete in Halle (Saale) erstmals an einem Tisch, um zu beraten, wie die Entstehung eines solchen neuen Wirtschaftszweiges in der Region gelingen könnte.
Die Polifilm Extrusion GmbH, ein renommierter Folienhersteller aus Weißandt-Gölzau (Südliches Anhalt) gehörte zu diesen frühen Unterstützern. „Wir beschäftigen uns seit langem mit nachhaltigen Folienlösungen. Dazu gehört auch die Suche nach geeigneten Biopolymer-Alternativen als Ausgangsmaterialien für unsere Produkte“, erläutert Projektmanagerin Maria Breuer. Während sich die meisten Biokunststoffe jedoch insbesondere für Verpackungen als recht kompliziert erwiesen, zum Beispiel wegen „milchiger Optik, unzureichender Mechanik oder zu aufwendiger Verarbeitung“, wie die Polifilm-Mitarbeiterin schildert, „kommt PBS in seinen Eigenschaften konventionellen Folienmaterialien wie etwa Polyethylen sehr nahe – und lässt sich auf geeigneten Maschinen und dementsprechenden Wissen verarbeiten. Auf den Auf- bzw. Ausbau dieses Wissens zielt unser Engagement bei Rubio ab.“
Allerdings stießen auch die Vorreiter aus Weißandt-Gölzau aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit des Materials an einige Grenzen: „PBS kann sowohl aus Erdöl als auch auf pflanzlicher Basis hergestellt werden“, erklärt Maria Breuer, „vor allem für Letzteres sind die weltweiten Kapazitäten bislang sehr gering und der Markt noch nicht bereit, die entsprechend hohen Preise mitzugehen.“ .
Keine Nahrungsmittelkonkurrenz
Nicht nur diesen Mangel möchten die beteiligten Partner mit ihrem neuen Bündnis beheben. „Bei der Rohstoffauswahl setzen wir außerdem bevorzugt auf solche pflanzlichen Produkte, die keine Nahrungsmittel sind“, unterstreicht Patrick Hirsch vom Fraunhofer Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen (IMWS) in Halle (Saale), „zum Beispiel auf Holz- und Ernteabfälle, Gärreste aus Biogasanlagen oder Stroh aus der Region“.
Unter Federführung des Fraunhofer-Forschers, der ebenfalls dem POLYKUM-Vorstand angehört, wurde die Ideenskizze in den folgenden Monaten zu einem gemeinsamen Konzept mit dem Codenamen „RUBIO“ ausgebaut. Das Kürzel steht für „Regionales unternehmerisches Bündnis zum Aufbau von Wertschöpfungsketten für technische Biokunststoffe in Mitteldeutschland“.
„In fünf Verbundprojekten möchten wir praxistaugliche, marktgängige Lösungen entlang des gesamten PBS-Produktlebenszyklus entwickeln“, umreißt Thomas Büsse die anspruchsvollen Ziele. Das beginne mit der biologischen Herstellung des Ausgangsstoffes Bernsteinsäure und reiche über die Synthese, Aufbereitung und Verarbeitung des PBS bis hin zum Recycling. „Denn für den Kompost ist dieser Kunststoff eigentlich viel zu wertvoll“, stellt der Wahl-Lausitzer klar.
So wolle das RUBIO-Bündnis eine „ganze Familie von Bio-PBS-Kunststofftypen für unterschiedlichste Anwendungen“ entwickeln, „für Joghurtbecher oder Shampoo-Flaschen ebenso wie für technische Fasern“, so Büsse. Jedes dieser spezialisierten Materialien soll am Ende seiner Nutzungszeit mit Hilfe eines ihm eigenen ,Fingerprints‘ leicht erkannt, getrennt und sortenrein recycelt werden können. „Dort aber, wo unsere Kunststoffe bestimmungsgemäß – etwa als Biomüllbeutel oder Geotextilien – oder auch achtlos in der Natur landen, werden sie von Mikroorganismen zu Kohlendioxid und Wasser verstoffwechselt, anstatt wie andere Kunststoffe Hunderte Jahre in der Umwelt zu Mikroplastik zermahlen zu werden“, so der Mitarbeiter des Fraunhofer IAP.
Mit diesem Entwurf bewarben sich die beteiligten Partner im vergangenen Jahr um Fördermittel aus dem Programm „Regionale unternehmerische Bündnisse für Innovation“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. „Nach mehreren Auswahlstufen wurde unser Vorhaben im Dezember für eine Förderung der Umsetzungsphase ausgewählt“, freut sich Patrick Hirsch, „damit fließen in den nächsten drei Jahren 12 Millionen Euro an Fördermitteln in die Region“. Weitere fünf Millionen Euro investieren die beteiligten Unternehmen und Institutionen selbst in das gemeinsame Strukturwandelprojekt, bei dem Wertschöpfungsketten für eine ganze Kunststofffamilie mit unterschiedlichsten Anwendungsbereichen entstehen sollen.
Unterschiedlichste Anwendungsgebiete
Dem Bündnis gehören insgesamt 19 Partner an, darunter sieben kleine oder mittelständische Unternehmen, sieben Großunternehmen und 5 Forschungseinrichtungen. 15 dieser Akteure haben ihren Sitz im Süden Sachsen-Anhalts, in Sachsen und Thüringen, vier sind in Brandenburg beziehungsweise Berlin zu Hause. „In etwa fünf Jahren soll das mitteldeutsche Chemiedreieck für seine biobasierten, kompostierbaren Kunststoffe bekannt sein, die in vielen Bereichen zum Einsatz kommen“, fasst Initiator Peter Putsch die Vision der Bündnispartner zusammen, „als Verpackungsmaterial ebenso wie als Werkstoff im Bauwesen, in der Elektronik und Sensorik oder in der Landwirtschaft“.